Konkrete Kritik an einer Werte-Lehrwerks-Beilage zur Wertevermittlung des Lehrwerkes Pluspunkt Deutsch > Österreich, A1 sowie generell an Werteprüfungen.
Als Kursleiterin vermittle ich Sprache und immer auch landeskundliches Wissen und Gepflogenheiten. Dafür benutze ich Material für Landeskunde und Orientierungswissen sowie Erlebnisse und Erfahrungen aus meinem eigenen Alltag. Wenn nun eine Werteprüfung nach den Vorgaben der Integrationsvereinbarung stattfinden soll, hat dies Auswirkungen für mich als Kursleiterin. Ich muss die Teilnehmer/innen meiner Kurse auf diese vorgeschriebenen Werte hin für die Prüfung vorbereiten.
Das Dilemma ist, dass diese Werte aus antiquierten Knigge-Regeln der 60er Jahre stammen, die Welt sich jedoch in demokratisierender Weise verändert hat hin zu sozialer Gerechtigkeit, gleichen Bildungschancen und der Gleichberechtigung von Mann und Frau, etc.
Den Höflichkeitskonventionen aus den Werteheften des Lehrwerks Pluspunkt Deutsch> Österreich (Lektion 1, S.4) zufolge, müsste ich meinen Kursteilnehmer/innen erklären, dass es falsch ist, wenn eine Frau den Mann zuerst grüßt oder zuerst verabschiedet. Denn der Mann muss zuerst die Frau grüßen und verabschieden. Und auch, dass Untergebene den/ die hierarchisch Höherstehende zuerst begrüßen (Mitarbeiter grüßt Chef zuerst, Pluspunkt Deutsch> Österreich, S.4). Dies erklärt das Gebot einer Höflichkeit, die unabhängig von Geschlecht und Statuts empfangen und geleistet werden sollte, für ungültig. Ein Gebot, das hart erarbeitete Errungenschaft der demokratischen, egalitären und dehierarchisierenden Gesellschaft unserer Zeit ist.
In Lektion 2 soll aufgezeigt werden, dass Frauen berufliche Gleichberechtigung widerfährt und sie auch Führungspositionen in Österreich bekleiden. Ein vorbildlicher Ansatz also, wenn da nicht die Hoteldirektorin mit österreichischem Namen, Sandra Schmid, und hierarchisch untergeordneten Küchengehilfen und das Zimmermädchen mit ausländischen Namen, Ali und Irena Mezoud, wären – in dieser Dichotomie allerdings können sich Migrant/innen allenfalls von Hilfsarbeitern zu Facharbeiter/innen hocharbeiten – Führungsetagen besetzen Österreicher/innen. Was wohlwollend als fortschrittliche Darstellung von beruflicher Chancengleichheit für Frauen gemeint war, liest sich im lehrwerksbegleitenden Werteheft als rückschrittliche Stereotypisierung von Arbeitshierarchien im Kontext von Herkunft.
Für die Lektion 4+5 wünschte ich mir, dass alleinerziehende Mütter und Väter, wie es auch der österreichische Bundeskanzler einmal war, in den heilen Familiendarstellungen einen Platz fänden und nicht komplett ausgelassen würden.
Es gibt auch durchaus sinnvolle Punkte in diesem Werteheft, bspw. den Themenpunkt Freiwilliges soziales Engagement. Diesbezüglich konnte ich bei einem Teilnehmer Interesse wecken, sich bei der freiwilligen Feuerwehr zu beteiligen. Leider scheiterte das ganze an einem fehlenden Link in diesem Heft, der Kontaktdaten hergibt.
Unterschreiben Kursleiter/innen einmal so ein Arbeitsvertrag mit ÖIF zertifizierten Deutschinstituten, hat dies zur Folge, dass man sich verpflichtet Werteschulungen begleitend zum ÖIF-Lehrwerk durchzuführen. Dies wird in unangekündigten Besuchen von ÖIF-Mitarbeiter/innen kontrolliert. Vor allem wird in den Kursdokumentationen auf die regelmäßigen Werte-Einheiten hin gesucht.
Werteprüfungen erinnern an Zeugnisse über eine „anständige“ Lebensweise sowie die Kenntnis der katholischen Glaubenslehre, die die Bevölkerungsgruppe der Roma 1773 nachweisen mussten
Insgesamt erinnert ein Abprüfen von Werten an die vierte von Maria Theresia eingeführte Verordnung zur Assimilierungspolitik der Bevölkerungsgruppe der Roma von 1773: Man verbot ihnen untereinander zu heiraten und die eigene Sprache zu sprechen. Für die Heiratserlaubnis von Mischehen mussten Zeugnisse über eine „anständige“ Lebensweise sowie die Kenntnis der katholischen Glaubenslehre nachgewiesen werden1. Maria Theresias Nachfolger, Joseph II (1780-1790) verordnetet sogar für die Verwendung der „Zigeunersprache“ 24 Stockschläge.
Anders liest sich das von Kaiser Franz Joseph I. unterzeichnete Staatsgrundgesetz, das zur Entstehung der Doppelmonarchie „Österreich-Ungarn“ 1867 führte und von dem sich der ÖIF 2017 eine Scheibe abschneiden kann. Der Artikel 19, der von sprachenpolitischer Relevanz ist, ist so formuliert, dass sich darin nicht nur eine tolerante Wertschätzung gegenüber den verschiedenen Sprachen und ihren Sprecher/innen abzeichnet, sondern auch, besonders unter Punkt 3, eine Selbstbestimmung ablesen lässt.
[1] Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt, und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache.
[2] Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staate anerkannt.
[3] In den Ländern, in welchen mehrerer Volksstämme wohnen, sollen die öffentlichen Unterrichtsanstalten derart eingerichtet sein, dass ohne Anwendung eines Zwanges zur Erlernung einer zweiten Landessprache jeder dieser Volksstämme die erforderlichen Mittel zur Ausbildung in seiner Sprache erhält.2
Manchmal kann eben Geschichte auch fortschrittlicher sein als die Gegenwart – ein Schritt vor, zwei zurück!
1 http://rombase.uni-graz.at//cgi-bin/artframe.pl?src=data/hist/modern/maria.de.xml
2 Zitat aus https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Erv/ERV_1867_142/ERV_1867_142.pdf