Franz Kafka lässt grüßen (Teil2)

Einige Tage später versuche ich abermals mein Glück und rufe wieder beim ÖIF an. Ich erreiche die
stellvertretende Leiterin des Teams „Werte“. Sie ist freundlich und hilfsbereit. Als ich sie frage, was
denn genau die „Werte der Rechts- und Gesellschaftsordnung“ laut Integrationsgesetz seien,
antwortet sie: “Gute Frage! Damit werden wohl die 9 Module auf der Homepage vom ÖIF gemeint
sein.“
Sie sei nur Koordinatorin der Wertekurse, mehr könne sie mir nicht sagen. Aber die Rechtsabteilung
werde mir sicher Auskunft geben.
Als ich frage, welche Qualifikationen erforderlich seien, um in den 8-stündigen Werte- und
Orientierungskursen zu unterrichten, verweist sie mich auf die Personalabteilung.
Für alle anderen Fragen solle ich mich an den Bereichsleiter der Wertekurse wenden. Sie gibt mir
seinen Namen und die Telefonnummer.
Ich suche auf der Homepage des ÖIF die 9 Module, finde sie aber nicht.
Leider erreiche ich nicht den Herrn Bereichsleiter selbst, sondern seine Sekretärin. Die etwas
schroffe Dame erklärt mir, ihr Chef sei in einer Besprechung und werde mich am Nachmittag
zurückrufen. Ich warte vergeblich.
Also rufe ich am nächsten Tag die Teamleiterin des Teams „Werte“ an, die inzwischen von ihrem
Urlaub zurückgekommen ist (s. voriger Beitrag zum Blog). Sie verweist mich gleich, ohne eine
Antwort auf meine Frage zu riskieren, auf den Herrn Bereichsleiter, ihren Chef. Sie werde mein
Anliegen weiterleiten und ihr Vorgesetzter werde mich gerne zurückrufen.
Aber er ist anscheinend sehr beschäftigt und tut dies wieder nicht.
Also probiere ich am darauf folgenden Tag aufs Neue ihn zu erreichen.
Diesmal spreche ich mit einem Herrn, allerdings nicht mit dem Bereichsleiter, sondern mit einem
„einfachen“ Mitarbeiter des Teams Werte. Er wirkt sehr selbstsicher und jovial.
Wieder frage ich, was denn mit den Werten der Rechts- und Gesellschaftsordnung gemeint sei.
„Das sind die Werte, die der Gesetzgeber vorschreibt“, sagt der Herr bestimmt. „Aber was ist das
genau?“
„Naja, allgemeine Werte eben, die Säkularisation (er stockt, verhaspelt sich, ist anscheinend
unsicher, ob das das richtige Wort ist) der Gesellschaft, die Gleichberechtigung von Mann und Frau,
dass alle Menschen, egal welcher Rasse (sic!) oder Religion sie angehören, gleichberechtigt sind
usw.“
„Aber woher wissen die Menschen, dass das alles gemeint ist, wenn sie die „Integrationserklärung“
unterschreiben?
„Sie werden von uns aufgeklärt und erhalten bei der Orientierungsberatung Informationsmaterial in
verschiedenen Sprachen, Arabisch, Farsi usw., damit sie das gleich internalisieren können.“*
„Und das geht? Das sind ja ganz umfassende, komplexe, philosophische, juridische … Fragen. Ich
verstehe das nicht.“
„Die Leute müssen ja auch einen 8-stündigen Wertekurs besuchen. Da hören sie das dann alles noch
einmal. Sie müssen sich keine Sorgen machen!“Da kommt mir folgender Gedanke:
Vielleicht meint der Herr, ich sei eine besorgte Bürgerin, die befürchtet, Flüchtlinge könnten vom
ÖIF nicht genug zum Thema „Werte“ lernen…
„Aber sind denn nicht 8 Stunden auch zu wenig?“
„Ich habe selbst so einen Kurs besucht und ich kann Ihnen sagen, das funktioniert! Natürlich
können wir den Leuten in der Zeit nicht alles beibringen, Tiefenpsychologie (sic!) und Recht und
so, aber es gibt ja mehrere Integrationsmaßnahmen. “
„Wie wird denn überprüft, ob die Leute auch wirklich wissen, was sie im Kurs gelernt haben?“
„Gute Frage! Wie gesagt: Das ist ja nicht die einzige Integrationsmaßnahme. Die Leute können sich
ja auch freiwillig engagieren.“
„Wo denn?“
Der Herr verweist auf die Homepage vom ÖIF und sagt, das Ganze sei so ähnlich organisiert wie
der Zivildienst.
„Welche Qualifikationen muss man denn eigentlich haben, um in solchen Wertekursen zu
unterrichten?“
Ich merke, dass mein Gesprächspartner ungeduldig wird.
„Das sind Personen mit mehrjähriger Trainingserfahrung, vor allem im Fremdsprachenbereich.
Sagen Sie, arbeiten Sie für eine Organisation?“ fragt mich der Herr misstrauisch.
„Nein, ich kenne viele geflüchtete Menschen und interessiere mich deshalb für die Thematik.
Wer bildet eigentlich die TrainerInnen der Wertekurse aus?“
„Der ÖIF selber, wir sind der einzige Anbieter von Wertekursen in Österreich“, sagt der Herr stolz.
Jetzt können Sie mir noch eine Frage stellen, denn dann ist meine Dienstzeit vorbei.“
Es ist ca. 15.28.
„Sagen Sie, es gibt ja Sanktionen, bei Nichterfüllung der Integrationsmaßnahmen. Wer entscheidet
eigentlich darüber und was sind die Kriterien?“
„Das liegt nicht im Bereich des ÖIF. Er dokumentiert nur und leitet alles weiter an die Behörde.“
„Und welche Behörde ist das?“
„Das Sozialamt natürlich! Und jetzt ist es 15.30. Meine Dienstzeit ist um. Ich wünsche Ihnen ein
schönes Wochenende.“
„Das wünsche ich Ihnen auch. Auf Wiederhören!“
Mit dem Herrn Bereichsleiter habe ich noch immer nicht gesprochen.
*Zur Orientierungsberatung des ÖIF empfehle ich folgenden Artikel:
https://www.sosmitmensch.at/site/home/article/871.html

25.07.2017

Franz Kafka lässt grüßen (Teil I)- Im Labyrinth des ÖIF

Vorige Woche lese ich in einem Informationsblatt, das ich auf der Homepage vom ÖIF gefunden
habe, dass Asyl‐ und subsidiär Schutzberechtigte (ab dem vollendeten 15. Lebensjahr, denen der
Status nach dem 31.12.2014 zuerkannt wurde) eine Integrationserklärung unterschreiben müssen.
Damit verpflichten sie sich, „zum einen, die grundlegenden Werte der Rechts‐ und
Gesellschaftsordnung einzuhalten und zum anderen, dass sie der gesetzlichen Pflicht nachkommen,
an den angebotenen Deutsch‐ und Wertekursmaßnahmen teilzunehmen, mitzuwirken und diese
abzuschließen.“
Ich rufe spontan beim ÖIF an, weil es da ein paar Dinge gibt, die ich nicht verstehe.
Ich frage die Dame, was denn die „grundlegenden Werte der Rechts‐ und Gesellschaftsordnung“
seien. Sie sagt, darüber könne sie mir keine Auskunft geben, weil für diese Formulierung das
Ministerium zuständig sei. Ich solle mich ans Integrationsministerium wenden.
„Aber bei Ihnen unterschreiben die Menschen doch diese Erklärung. Wo genau passiert das denn?“,
frage ich.
„Bei der Orientierungsberatung. Die Menschen kommen in eines der Integrationszentren des ÖIF.
Dort werden sie beraten, welchen Sprachkurs sie besuchen sollen usw.“
„Aber wie geht das? Können das Ihre KollegInnen bei der Orientierungsberatung?“
„Nein, aber die schicken die Leute weiter zum Team Sprache, die machen die Sprachberatung.“
„Aha und – um auf meine Frage eingangs zurück zu kommen ‐ können mir Ihre KollegInnen von
der Orientierungsberatung sagen, was mit den „grundlegenden Werten der Rechts‐ und
Gesellschaftsordnung“ gemeint ist?“ „Naja, ich weiß nicht, ob die jetzt abheben, weil die sind
gerade so mit den Beratungen beschäftigt. Ich verbinde Sie mit dem Team Werte.
Ich werde mit einer Mitarbeiterin des Team Werte verbunden.
„Guten Tag, ich habe eine Frage. Können Sie mir bitte sagen, was die „grundlegenden Werte der
Rechts‐ und Gesellschaftsordnung“ sind?
„Naja, das sind z.B. das Sozialversicherungssystem, die Gleichberechtigung von Mann und Frau,
dass alle Menschen in Österreich die gleichen Rechte haben, die Demokratie …“
„Danke, wie lange dauern eigentlich diese Wertekurse?“
„8 Stunden“
„Und das alles kann man in 8 Stunden lernen? Das sind ja zum Teil philosophische, ethische,
juristische Fragen, die sehr komplex sind“.
„Naja, es gibt Dolmetscher.“
„Wer unterrichtet überhaupt in diesen Kursen? Was muss man dazu können?“ „Da muss man eine
Ausbildung machen.“
„Wo denn?“
„Bei einem externen Anbieter.“
„Und welcher ist das?“
„Bitte fragen Sie das meine Teamleiterin.“
„Wie lange dauert denn die Ausbildung?“
„Sie ist mehrwöchig. Fragen Sie bitte meine Teamleiterin.“„Ich habe gelesen, dass es Sanktionen gibt, wenn jemand nicht „mitwirkt“ oder die
Integrationsmaßnahmen nicht abschließt. Was heißt denn das und wer entscheidet das?“
„Naja, ich vermute die vom Magistrat. Aber fragen Sie meine Teamleiterin. Wenn Sie mir Ihre
Telefonnummer geben …“
„Ich bin in der nächsten Zeit schwer zu erreichen, geben Sie mir bitte die Durchwahl Ihrer
Teamleiterin.“
„Sie ist jetzt in einer Besprechung, aber am Montag ist sie wieder erreichbar.“
Immerhin habe ich erfahren, dass (ich hoffe, es stimmt) AsylwerberInnen und subsidiär
Schutzberechtigte, die seit Dezember 2014 eine Deutschprüfung geschafft haben, diese nicht ganz
wiederholen, sondern nur einen Werteteil nachmachen müssen. Woraus der genau besteht, weiß ich
leider nicht.
In Zukunft sollen die Werte lt. Auskunft einer der Damen vom ÖIF sowohl in den Deutschkursen,
als auch in den 8‐stündigen Kursen vermittelt werden.
Montag
Ich rufe unter der Nummer an, die mir ein paar Tage vorher gegeben worden war, weil viele meiner
Fragen noch immer offen sind.
Es hebt nicht die genannte Dame, sondern wieder eine einfache Mitarbeiterin des ÖIF ab und erklärt
mir, dass die Teamleiterin diese Woche auf Urlaub und deren Stellvertreterin erst wieder am
Mittwoch zu erreichen sei.
Auf meine Frage, was denn genau die „grundlegenden Werte der Rechts‐ und
Gesellschaftsordnung“ seien und wie man die in 8 Stunden lernen bzw. lehren könne, konnte auch
sie mir keine Antwort geben.
Auf meine Frage, womit denn die über 50 (!) auf der ÖIF‐Homepage aufgelisteten MitarbeiterInnen
des Teams Werte beschäftigt seien, antwortet sie: „mit administrativen Aufgaben“.
Fortsetzung folgt.

(ein_e DaZ-Lehrende_r)/ 7.10.2017

Falls ihr inspiriert worden seid: Kontakte: Team Werte ÖIF

Ein Schritt vor, zwei zurück?

Konkrete Kritik an einer Werte-Lehrwerks-Beilage zur Wertevermittlung des Lehrwerkes Pluspunkt Deutsch > Österreich, A1 sowie generell an Werteprüfungen.

Als Kursleiterin vermittle ich Sprache und immer auch landeskundliches Wissen und Gepflogenheiten. Dafür benutze ich Material für Landeskunde und Orientierungswissen sowie Erlebnisse und Erfahrungen aus meinem eigenen Alltag. Wenn nun eine Werteprüfung nach den Vorgaben der Integrationsvereinbarung stattfinden soll, hat dies Auswirkungen für mich als Kursleiterin. Ich muss die Teilnehmer/innen meiner Kurse auf diese vorgeschriebenen Werte hin für die Prüfung vorbereiten.

Das Dilemma ist, dass diese Werte aus antiquierten Knigge-Regeln der 60er Jahre stammen, die Welt sich jedoch in demokratisierender Weise verändert hat hin zu sozialer Gerechtigkeit, gleichen Bildungschancen und der Gleichberechtigung von Mann und Frau, etc.

Den Höflichkeitskonventionen aus den Werteheften des Lehrwerks Pluspunkt Deutsch> Österreich (Lektion 1, S.4) zufolge, müsste ich meinen Kursteilnehmer/innen erklären, dass es falsch ist, wenn eine Frau den Mann zuerst grüßt oder zuerst verabschiedet. Denn der Mann muss zuerst die Frau grüßen und verabschieden. Und auch, dass Untergebene den/ die hierarchisch Höherstehende zuerst begrüßen (Mitarbeiter grüßt Chef zuerst, Pluspunkt Deutsch> Österreich, S.4). Dies erklärt das Gebot einer Höflichkeit, die unabhängig von Geschlecht und Statuts empfangen und geleistet werden sollte, für ungültig. Ein Gebot, das hart erarbeitete Errungenschaft der demokratischen, egalitären und dehierarchisierenden Gesellschaft unserer Zeit ist.

In Lektion 2 soll aufgezeigt werden, dass Frauen berufliche Gleichberechtigung widerfährt und sie auch Führungspositionen in Österreich bekleiden. Ein vorbildlicher Ansatz also, wenn da nicht die Hoteldirektorin mit österreichischem Namen, Sandra Schmid, und hierarchisch untergeordneten Küchengehilfen und das Zimmermädchen mit ausländischen Namen, Ali und Irena Mezoud, wären – in dieser Dichotomie allerdings können sich Migrant/innen allenfalls von Hilfsarbeitern zu Facharbeiter/innen hocharbeiten – Führungsetagen besetzen Österreicher/innen. Was wohlwollend als fortschrittliche Darstellung von beruflicher Chancengleichheit für Frauen gemeint war, liest sich im lehrwerksbegleitenden Werteheft als rückschrittliche Stereotypisierung von Arbeitshierarchien im Kontext von Herkunft.

Für die Lektion 4+5 wünschte ich mir, dass alleinerziehende Mütter und Väter, wie es auch der österreichische Bundeskanzler einmal war, in den heilen Familiendarstellungen einen Platz fänden und nicht komplett ausgelassen würden.

Es gibt auch durchaus sinnvolle Punkte in diesem Werteheft, bspw. den Themenpunkt Freiwilliges soziales Engagement. Diesbezüglich konnte ich bei einem Teilnehmer Interesse wecken, sich bei der freiwilligen Feuerwehr zu beteiligen. Leider scheiterte das ganze an einem fehlenden Link in diesem Heft, der Kontaktdaten hergibt.

Unterschreiben Kursleiter/innen einmal so ein Arbeitsvertrag mit ÖIF zertifizierten Deutschinstituten, hat dies zur Folge, dass man sich verpflichtet Werteschulungen begleitend zum ÖIF-Lehrwerk durchzuführen. Dies wird in unangekündigten Besuchen von ÖIF-Mitarbeiter/innen kontrolliert. Vor allem wird in den Kursdokumentationen auf die regelmäßigen Werte-Einheiten hin gesucht.

Werteprüfungen erinnern an Zeugnisse über eine „anständige“ Lebensweise sowie die Kenntnis der katholischen Glaubenslehre, die die Bevölkerungsgruppe der Roma 1773 nachweisen mussten

Insgesamt erinnert ein Abprüfen von Werten an die vierte von Maria Theresia eingeführte Verordnung zur Assimilierungspolitik der Bevölkerungsgruppe der Roma von 1773: Man verbot ihnen untereinander zu heiraten und die eigene Sprache zu sprechen. Für die Heiratserlaubnis von Mischehen mussten Zeugnisse über eine „anständige“ Lebensweise sowie die Kenntnis der katholischen Glaubenslehre nachgewiesen werden1. Maria Theresias Nachfolger, Joseph II (1780-1790) verordnetet sogar für die Verwendung der „Zigeunersprache“ 24 Stockschläge.

Anders liest sich das von Kaiser Franz Joseph I. unterzeichnete Staatsgrundgesetz, das zur Entstehung der Doppelmonarchie „Österreich-Ungarn“ 1867 führte und von dem sich der ÖIF 2017 eine Scheibe abschneiden kann. Der Artikel 19, der von sprachenpolitischer Relevanz ist, ist so formuliert, dass sich darin nicht nur eine tolerante Wertschätzung gegenüber den verschiedenen Sprachen und ihren Sprecher/innen abzeichnet, sondern auch, besonders unter Punkt 3, eine Selbstbestimmung ablesen lässt.

[1] Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt, und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache.

[2] Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staate anerkannt.

[3] In den Ländern, in welchen mehrerer Volksstämme wohnen, sollen die öffentlichen Unterrichtsanstalten derart eingerichtet sein, dass ohne Anwendung eines Zwanges zur Erlernung einer zweiten Landessprache jeder dieser Volksstämme die erforderlichen Mittel zur Ausbildung in seiner Sprache erhält.2

Manchmal kann eben Geschichte auch fortschrittlicher sein als die Gegenwart – ein Schritt vor, zwei zurück!

Von S. P., IG-Daz

 

1 http://rombase.uni-graz.at//cgi-bin/artframe.pl?src=data/hist/modern/maria.de.xml

2 Zitat aus https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Erv/ERV_1867_142/ERV_1867_142.pdf

Werteschulungen. Gedanken einer Be_Werter_in.

Werteschulungen.
Gedanken einer Be_Werter_in.

Mein Magen krampft, ich schlucke schwer, atme flach. Lese erneut. Versuche mein Bauchgefühl zu deuten, die Abneigung, den körperlichen Widerstand zu verstehen, denke ihn lösen zu wollen. Warum reagiere ich bloß so? Was genau stellt meine Haare auf. Warum diese Abwehrhaltung? Mein erster klarer Gedanke. Ich will keine Mitläuferin sein. Nein. Da kann ich nicht mitmachen. Ich denke an die Kinder, imaginiere die Fragen, die, so unerbittlich und ernst, sie einst den Älteren stellen. “Warum habt ihr das zugelassen?” “Warum habt ihr nichts getan?” “Wie konntet ihr das nicht bemerken, nicht wissen?” “Wie konntet ihr nichts tun?”

Es ist 2017. Es ist Februar. Ich öffne eine Mail und folge einem Link zu einen Gesetzesentwurf, ich lese ihn und ich hoffe irgendwann aus diesem dystopischen Alptraum aufzuwachen. In dem ein Gesetz einem staatlichem System ermöglicht, den Bewohner_innen des Staatsgebiets bestimmte, von dazu angewiesenen staatlichen Institutionen und Funktionen, definierte aber nicht zur Disposition stehende Werte unter der Androhung von Sanktionen aufzuerlegen und dies zur demokratischen Normalität erklärt wird.

Wie konnte Antifaschist*in zu einer Schmähung werden?

Ich denke an Menschen im Mittelmeer und an den Grenzen. In Lagern, auf Straßen, in Containern, auf Inseln, auf gegenüberliegenden Kontinenten und hier. In Erziehungsanstalten und Camps. In Kontrollsystemen versorgt. Ich denke an Migrant_innen und Refugees an Bewegungsfreiheiten und an Pässe, an Menschen, wie Unartige behandelt. Ich lese von Werten und falle ins bodenlose Vertigo. Im Schwindel reihen sich Worte und Fragezeichen aneinander: Mitläufer_in? Mittäter_in? Unterstützer_in? Sabotierer_in? Befehlsausführer_in? Vorauseilendes Gehorsam? Verweigertes Gehorsam? Widerstand? Aufgabe? Ohnmacht?

Ich lese von grundlegenden Werten der Rechts- und Gesellschaftsordnung. Ich lese, dass ein einziges Organ herausgebend, ausführend und kontrollierend ist, dass eine einzige Funktion per Verordnung Inhalte bestimmt.

Ich wurde nie gefragt. Genauso wenig wie alle anderen, die es betrifft und es betrifft uns alle, die hier auf diesem Stückchen Erde wohnen. Und was, wenn mir das nicht passt? Was dann? Sollt ich dann gehen?
Stimmen, die sich seit dem ersten Aufkommen solcher Ideen (2015) kritisch äußerten, werden ignoriert und diskreditiert als verblendete Humanist_innen, Weltverbesserer_innen, Antifaschist_innen, Antinationalist_innen, Akademiker_innen, Träumer_innen.

Alles dreht sich.

Ich mag da nicht mitmachen. Stop. Es geht nicht um einzelne Inhalte. Es geht um die Verordnung, die Pflicht, die Sanktion, die Kontrolle, das Monopol.

Plötzlich über Nacht und ohne breite Diskussion stehen sie da. Von Expert_innen erstellte Werte. Sie werden einer Gesellschaft vorgestellt. Ihr auferlegt und plötzlich verstummt der polyphone Dialog. Es ist still. Keine Diskussion mehr. Die Antwort zu der Frage was Integration ist, wird in ein Gesetz gegossen mit Sanktionen versehen und beschlossen, dass es darum jetzt keine weiteren Debatten mehr gibt. Punkt. Ähm, Entschuldigung aber was ist mit dem Recht darauf, so sein zu dürfen, das Recht auf Vielfalt und Veränderung?

Die Debatte ist geschlossen. Punkt.

So einfach war Freiheit, das Recht auf Selbstbestimmung mit Sicherheit (verstanden als Erhaltung eines Momentzustands betrachtet aus exklusiver Perspektive) und Kontrolle vertauscht worden, dass in der Banalität der Faktenlage das Grausame liegt.

Zynisch das “Die Würde des Menschen, die Gleichberechtigung aller Menschen und das Recht jedes Einzelnen auf ein selbstbestimmtes und selbstverantwortliches Leben” unbedingt als grundlegende Werte verordnet werden.

Wann gilt eine_r als Mensch?

Der Inhalt ist für mein formuliertes Befinden, für mein Unbehagen irrelevant. Es geht um die Form. Selbst wenn es meine persönliche Utopie wäre, welche per Verordnung nun als die grundlegenden Werte der Bewohner_innen eines abgegrenzten Stückchens Welt gelten mögen. Selbst wenn diese bloß die Verfassung widerspiegeln würden. Es ist die politische Form die entsetzt, die empört und die mir immer wieder in ihrer arroganten Selbstverständlichkeit den Atem verschlägt.

Verpflichtende Werteschulungen und Werteprüfungen? Bei Verweigerung Bestrafung, Ausschluss aus der Solidaritätsgemeinschaft, Verweis aus dem Staatsgebiet?

Für alle? Nein, für bestimmte juristisch definierte Personengruppen (jene, welche als juristische Personen dem Staate Österreich anhängig sind) gelten diese Regeln nicht. Bedeutet dies, dass Personen, welche die österreichische Staatsangehörigkeit tragen, die per Weisung eines staatlichen Organs definierten Werte und Regeln inkorporiert haben? Wird hier von einer quasi Natürlichkeit des Kennens und Befürwortens dieser, eben erst bekanntgewordenen Werte ausgegangen, oder stattet eine solche Staatsangehörigkeit mit dem Privileg aus, diese eben nicht zu befolgen? Oder aber, werden in Zukunft ebenso mit Hilfe des staatlich organisierten Bildungssystems, Sozialsystems, Medienkampagnen etc. diese Werte sanktionierend verbreitet und haben auch als österreichische Staatsangehörige definierte, diesen (ihnen scheinbar natürlichen, nicht zur Disposition stehenden) Regeln unhinterfragt zu folgen?

 

Es ist 2017. Es ist Winter. Mitteleuropa. Wien. Eines der selbsternannten globalen Zentren der Demokratie und Meinungsfreiheit. Die Stimme des Souverän hallt durch meine Gedankengänge: “So lange du unter diesem Dach lebst, tust du was dir befohlen wird, denkst du was dir gelehrt wird zu denken, führst du aus was dir aufgetragen wird.”
Ich unter_werf mich in Ehr_furcht. Den Herr_schaften zu Füßen liegt Selbstbestimmung im Staub. Ich über_gebe mich. Schalte das Denken auf Gleich. Löse den Widerstand auf. Zum Erhalt der Körperlichkeit leg ich das Selbst ab. Wie eine schlechte Gewohnheit wird es verpönt, ausgeschlossen, zur Uneigentlichkeit erklärt. Ich bin Be_Werter_in von Beruf.

J.S.

Werte müssen diskutierbar bleiben

Werte müssen diskutierbar bleiben

Wenn wir Zwang und Pflicht für ausgewählte Gruppen von Menschen einführen, dann handeln wir gewaltvoll und ganz im Gegensatz zur Selbstinszenierung als scheinbar starke Demokratie.

Wir, DaF/DaZ-Lehrende, sollen in Zukunft, die vom Innenministerium vorgegebenen Werte unterrichten? Staatlich verordnete Werte? Wem sie verpflichtend verordnet werden sollen, ist ja nun nicht zufällig. Zäh und schwer hält sich das koloniale Bild der rückständigen Anderen und das europäische Werte-Wir zelebriert vor dem Hintergrund dieses Bildes die eigene vermeintliche Überlegenheit und Fortschrittlichkeit. Unterdrückt und in demokratischen Fragen defizitär sind immer die Anderen, während im als aufgeklärt und zivilisiert imaginierten Westen alles in bester Ordnung sei. Ein Hort der Werte eben. Neu sind diese Herrschaftsfantasien in Bezug auf die Anderen nicht, und auch vor den geplanten Werte-Kursen, gab es wertfreies Unterrichten, neutrale Kurse und Kursinhalte/Sprache und neutrales Sprechen nicht. Die Lehrbücher waren immer schon voll von solchen Fantasien.

Was aber ist Fortschritt? Neokoloniale Ausbeutungsverhältnisse? Dass der Anteil der Frauen im österreichischen Parlament und in Leitungspositionen unsäglich niedrig ist? Dass Europa’s Grenzen hochmilitarisiert sind und dass die EU-Grenzregime für den Tod von Tausenden Menschen im Mittelmeer verantwortlich sind? Europa als Hort der Menschenrechte und der Geschlechtergerechtigkeit. Wie zynisch. Die Materialien sind voll von Repräsentationen und Narrativen, die die Teilnehmer_innen dieser Kurse oftmals auf stereotype Art und Weise ansprechen. Formen der Adressierung, die generalisierend unterstellen; dass es an Höflichkeit fehlt, (die eingeübt werden soll); dass es an Rücksichtnahme fehlt; dass Frauen belästigt werden, denn ‚Wir belästigen Frauen nicht‘ (@ Werte-, und Orientierungsteil des Buches: Linie 1, Österreich, Deutsch in Alltag und Beruf, Rubrik: Miteinander leben und arbeiten, Kapitel: Leute treffen/Im Park, 2b – Menschen im Park. Welches Verhalten ist gut? Kreuzen Sie an: Smiley oder nicht, Stuttgart 2017, V: Klett, S. 130)

Die Inhalte der Kurse und Werte-Kurse sind nicht zufällig gewählt.

Die Autor_innen und Konzeptor_innen wissen scheinbar um die (Demokratie-)Defizite der Teilnehmer_innen genau Bescheid. Verallgemeinernde Unterstellungen. Generalverdächtigungen. Generalisierende Annahmen.

Werte oder besser Haltungen sind wichtig und es gibt keinen Unterricht, der wert-frei wäre. Aber um wessen Werte geht es jetzt? Die des Innenministeriums? Als staatlicher Zwang? Und noch dazu als Instrument der Fremdenpolizei? Und abgesehen davon, die Frage nach der erwünschten Effzienz und Sinnhaftigkeit von Werte-Kursen, die davon ausgehen, dass es möglich wäre, diese Werte widerspruchlos einzutrichtern? Bildung eintrichtern und somit das eigene Wissen als absolut zu setzen und die Bedingungen der Wissensproduktion dabei völlig zu ignorieren, ist absurd. Welches Bildungsverständnis steht dahinter, wenn davon ausgegangen wird, dass es möglich wäre, diese Werte mittels eines Trichters in die Köpfe der Menschen reinzudrücken. Dieser vorgestellte Trichter ignoriert, dass Menschen aufgrund unterschiedlicher Erfahrungen, Geschichten, sozialer Hintergründe, Zugehörigkeiten, Standpunkte, unterschiedliches Wissen mitbringen und hervorbringen. Bezogen allein auf das methodische Vorgehen, absurd gedacht, und das Ganze dann noch auf Deutsch. Dagegen können, in einem kritischen Bildungsverständnis, Differenzen nicht ignoriert werden1 und die Idee des ‚Trichterns‘ von absolut gesetzten eindimensionalen Wahrheiten, funktioniert nicht nur nicht, sondern muss als Belehrung von oben gelten, als Indoktrination, will ich sagen.

Teilnehmer_innen sollen überrumpelt werden und die Überrumpelung selbst scheint außerhalb der Kritik zu stehen. Die Teilnehmer_innen sollen denken, was erwünscht wird. Sie sollen die erwünschten Haltungen/Meinungen einnehmen und einüben mittels des Materials, das zur Verfügung gestellt wird. Und nicht etwa sollen kontroverse Positionen beachtet werden, was, einem kritischen Bildungsverständnis nach, wichtig wäre. Die Teilnehmer_innen werden schlichtweg als nicht-wissend, über das falsche Wissen und die falschen Werte verfügend, permanent abwertend angesprochen. In dieser Konstruktion können sie scheinbar nicht für sich selbst sprechen und müssen umerzogen und belehrt werden.

Während ich schreibe, muss ich (nicht zufällig) an autoritäre pädagogische Verhältnisse denken. Und, während ich schreibe, muss ich weiter an politische Verhältnisse denken, die autokratische Politiken hervorbringen, im Rahmen derer gesellschaftliche Verhältnisse als verwaltbar und nicht als gestaltbar, nicht als verhandelbar angesehen werden. Genauso verhält es sich in Bezug auf die Werte. Scheinbar waren sie schon immer gleich da, zu verwalten, einzutrichtern, den Teilnehmer_innen, möglichst schnell, effizient, messbar gemacht – abschließende Werte-Prüfung. Keine Zeit für Kontroverse und Widerspruch, auch nicht erwünscht. Die Messbarkeit von Bildung, nicht zuletzt in Gestalt von Kompetenzen scheint ja allgemein die Illusion unserer Zeit zu sein, verbunden mit einem sehr starken Nützlichkeits-, und Kontrolldiskurs.

DaF/DaZ-Lehrende sollen die Ausführenden einer autokratischen Politik werden.

Überzogen ist das alles nicht.

Letztlich das Aufschwingen einer Ordnung, die mehr und mehr im Strom der Verrohung und Ausbeutung aufzugehen droht und die ihren einzigen Ausweg darin sieht, nicht diese Politiken selbst grundlegend in Frage zu stellen und die Werte von Wandel- und Verhandelbarkeit als fixe Vorgaben zu positionieren, inklusiver einer Pädagogik, die Widersprüche und Kontroverse bewusst evoziert und zulässt, sondern die ihren einzigen Ausweg darin sieht, der gefühlten Bedrohung mit Abschottung/der Provokation von Ängsten/Militarisierung und dem Vorschreiben von Werten und zu erreichenden messbaren Kompetenzen zu begegnen. Auf Bedrohungsszenarien, und der Eindruck besteht als würden wir auf gesellschaftliche Verhältnisse nur noch aus der Perspektive der Bedrohung blicken, wird geantwortet, nicht mit einer Perspektive der Offenheit, Verhandelbarkeit, Vielstimmigkeit, sondern mit Zwang, Pflicht, Leistung und Überrumpelung. Mitwirkungspflicht bei Sprach- und Wertekursen, mitunter. Der Versuch, das Politische/das Ermöglichende zwischen Menschen, still zu legen. Der Versuch, das Pluralistische/das Kontroverse/die unterschiedlichen Sichtweisen und Standpunkte, still zu legen.

Die Werte der Herren im Haus, fix, einzig-richtig, naturalisiert, nicht gestaltbar, nur verwaltbar, (gott-)gegeben. Affirmation der bestehenden Ordnung und der darin imaginierten Werte. Werte, die zum Schutz (vor der Bedrohung) dieser Ordnung definiert und installiert werden –

dem Zwang zur Pflichterfüllung freigegeben. Die Rede ist von Pflichten und Rechten immer. Werte, die diese Ordnung stützen sollen, scheinbar (gott-)gegeben, verordnet und die Möglichkeit dieser bestehenden Ordnung einen stärker tiefkonservativen Schliff zu verpassen. Es ist die Möglichkeit der Herrschenden diese Ordnung nochmal als gestärkt konservative Ordnung zu fassen, hervorzubringen, zu erfinden, anzupassen und einzupassen. Neu-Erfindungen, Festigungen von rückständigen Konservativismen durch die Rede der Rückbesinnung auf scheinbar ureigene alte Traditionen, zum Schutz des bedrohten Abendlandes. Werte, die scheinbar nicht hinterfragt werden sollen, unhinterfragt bleiben sollen. Wer kritische Bildungsarbeit machen will, ist wohl nicht erwünscht.

Wer legitimiert das Werte-Schreiben? Wodurch ist es legitimiert? Funktioniert nur, wenn die Vorstellung ist, dass Werte keiner Ausverhandlung bedürfen, was zutiefst undemokratisch ist.

D. R.

1 Das Hervorheben von stereotypen Differenzen zum Zweck der Abgrenzung und Unterscheidung ist damit nicht gemeint.

Kommentierte ÖIF Materialien: Warum wir das nicht nutzen wollen/können/sollen:

Eine Gruppe von Kursleiterinnen hat das Lernmaterial “Was wir mit unserer Arbeit beisteuern” für das Niveau A1 vom ÖIF kritisch begutachtet, diskutiert und mit Kommentaren versehen.
Zusammenfassend: Das Material ist methodisch und didaktisch wenig abwechslungsreich gestaltet, steckt Lernziele ab, die auf A1 teilweise kaum umsetzbar sind, bewegt sich nicht immer im Rahmen der Kann-Beschreibungen für A1 des GER, ist teilweise unnötig kompliziert und inhaltlich  nicht korrekt bzw. stimmt nicht mit den realen Erfahrungen von Kursteilnehmer_innen überein. Es vermittelt  ein Bild des österreichischen Sozialsystem das völlig frei von allen Benachteiligungen und Problemen ist. Von den Kursleiter_innen wird hier ein großes Vorwissen zu den Inhalten erwartet, um diese für die jeweiligen Teilnehmer_innen aufzuarbeiten bzw. um auf auftretenden Fragen informiert eingehen zu können. Dieses erschließt sich nicht aus dem Material, weitere Informationen zur Vertiefung lassen sich ebenso nicht finden.

Fazit: Wenig brauchbar, teilweise problematisch. Den gesamten Kommentar als PDF gibts hier: Kommentar_Was_wir_mit_unserer_Arbeit_beisteuern

….ich bin eben nicht Beamte im Innenministerium geworden, sondern Deutschlehrerin.

Jetzt soll ich also, vom Gesetzgeber angeordnet, „grundlegende Werte der Rechts- und Gesellschaftsordnung“ in Österreich in meinen Deutschkursen vermitteln, und diese Werte werden dann im Rahmen der „Integrationsprüfung“, einer kombinierten Sprach- und Werteprüfung abgeprüft. Die Integrationsprüfung entscheidet über etwas so Existentielles wie das Aufenthaltsrecht der PrüfungskandidatInnen in Österreich.

Ich bin es inzwischen seit 9 Jahren gewohnt, die Kursteilnehmerinnen in meinen Frauengruppen dabei zu unterstützen, Sprachprüfungen auf Niveau A2 bzw. B1 abzulegen, damit sie die Integrationsvereinbarung erfüllen können. Wie problematisch es ist, den rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich mit einem Deutschtest zu verknüpfen, erlebe ich jedes Semester wieder, wenn ich die Prüfungsvorbereitung mache, und die Frauen von Tag zu Tag nervöser werden, weil sie so unter Druck stehen. Ich kann ihnen den Druck nicht nehmen, aber ich kann sie sprachlich unterstützen und sie mit dem systematischen Aufbau der Prüfung vertraut machen.

Jetzt aber kommen in der Prüfung und in den Deutschkursen die Werte dazu, und das ist ein enormer Unterschied. Denn was bedeutet eigentlich der vielstrapazierte Begriff „Werte“? Bedeutet er im Kontext des Gesetzestexts „Regeln“, bedeutet er „Bräuche“, bedeutet er „Überzeugungen“ oder bedeutet er sogar so etwas wie ethisch-moralische Haltungen? Und je nachdem, wie das Gesetz ihn vorschreibt und wie der ÖIF ihn in seinen Wertematerialien abhandelt, wie gehe ich mit diesem Inhalt in meinem Deutschkurs um?

Die Frauen in meinen Deutschkursen kommen aus den unterschiedlichsten Ländern und haben sich aus vielfältigen Gründen für ein Leben in Österreich entschieden. Das heißt, einige von ihnen haben sich gar nicht bewusst für ein Leben in Österreich entschieden – es hat sie zufällig auf ihrer Flucht hierher verschlagen. Und nun – und das haben sie mit den anderen Frauen in meinen Kursen, die geplant hierhergekommen sind, gemeinsam – wollen sie das Beste aus ihrem neuen Leben hier machen. Und ich darf und soll und hoffentlich kann ihnen dabei helfen, indem ich sie beim Deutschlernen unterstütze.

Neben der Vermittlung von sprachlichen Strukturen, also dem hand- und mundfesten Werkzeug, das ich mitbringe und das auch über mehr oder weniger konkrete Ergebnisse überprüfbar ist, erlebe ich meine Arbeit vor allem als Austausch und Auseinandersetzung mit meinen Kursteilnehmerinnen. In dieser Auseinandersetzung treffen wir als Menschen aufeinander, die so unterschiedlich und sich doch auch so ähnlich sind, wie Menschen halt sind. Mit dem einen großen Unterschied allerdings, dass ich in Österreich geboren und aufgewachsen bin, und auch meine Eltern und meine Großeltern hier geboren und aufgewachsen sind. Und dieser Unterschied bedeutet, dass ich mich gesellschaftlich in einer einfacheren, und ja, privilegierten Position befinde. Der Unterschied bedeutet aber nicht, dass ich weiß, wie man hier richtig lebt, während die Kursteilnehmerinnen es nicht wissen.

Meine Position muss ich auch immer mitbedenken, wenn wir uns als Lerngruppe offen und vertrauensvoll untereinander austauschen. Denn meine privilegierte Position und einfach auch die Tatsache, dass ich die Lehrerin bin und die Frauen Lernende, bedeutet Macht. Und mit Macht soll man verantwortungsvoll umgehen. Wenn es um Grammatik und Wortschatz geht, dann bin ich aufgrund meiner langjährigen Ausbildung und Erfahrung die Expertin und kann und will das den Deutschlernenden vermitteln. Das steht (hoffentlich!) in meiner Macht.

Wenn es aber um etwas so Verschwommenes und schwer Definierbares wie „Werte“ geht, dann wird es problematisch. Denn natürlich geht es bei einem offenen Austausch auch immer um „Werte“, insbesondere, wenn man „Werte“ als Haltungen oder Überzeugungen versteht. Jede/r von uns denkt, sagt, zeigt, agiert, lebt seine/ihre Werte die ganze Zeit, bewusst oder meistens unbewusst. Und dann konfrontieren wir andere mit unseren Werten, und werden gleichzeitig mit ihren Werten konfrontiert. Das gilt natürlich nicht nur für den Kontext Deutschkurs, sondern für jede soziale Interaktion.

Das erlebe ich allein schon täglich vor der Schule meines Kindes, wenn ich mit anderen Eltern spreche, ganz egal, welchen „Hintergrund“ sie haben. Wir haben unterschiedliche Werte, sowohl Überzeugungen, als auch Regeln und Bräuche, als auch moralische Konzepte, was unsere Kinder angeht, was wir ihnen mitgeben wollen, was wir wichtig oder nicht so wichtig finden. Sollen die Kinder im Bett der Eltern schlafen oder nicht? Ist es gut, wenn Kinder schon mit einem Jahr außer Haus betreut werden? Etc. Und diese unterschiedlichen Wertvorstellungen tauschen wir miteinander aus, manchmal sind wir uns einig, manchmal überhaupt nicht. Schwierig wird es allerdings, wenn ich meine Werte, die ich zu diesem Zeitpunkt meines Lebens aufgrund meiner Lebenssituation und meiner Lebenserfahrungen habe, anderen als die richtigen vermitteln möchte. Denn Werte, wenn man sie als persönliche Überzeugungen und ethisch-moralische Konzepte versteht, sind individuell und wandelbar.

Ich kann sie nicht vermitteln, und ich kann sie schon gar nicht abprüfen; ich kann mich nur mit anderen über sie austauschen und sie auch verhandeln. Ich verstehe sie auch nicht als etwas Statisches, sie verändern sich ein Leben lang, durch die Veränderungen in meinem Leben und durch die Erfahrungen, die ich im sozialen Zusammenleben mit anderen Menschen mache. So habe ich jetzt definitiv andere Überzeugungen und auch teilweise andere ethische Vorstellungen als vor 20 Jahren, und ich würde sagen, das liegt zu einem großen Teil auch an meinem Beruf und den vielen unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Lebensgestaltungen, die ich durch meinen Beruf gehört, gesehen und erlebt habe.

Sollte es bei den Werten um Bräuche gehen, dann kann ich von österreichischen Bräuchen, sofern sie mir bekannt sind, erzählen (viele davon kenne ich nur vom Hörensagen oder Lesen, sie sind aber nicht Bräuche, die ich lebe); ich kann sie aber auch nicht vermitteln, denn dafür muss man entweder von klein auf damit aufgewachsen sein oder aber man entscheidet sich dafür, einen neuen Brauch ins jetzige Leben zu integrieren, und das ist immer eine sehr persönliche, individuelle Entscheidung, so etwas kann nicht politisch verordnet werden und auch nicht gelehrt werden.

Wenn es aber bei den „Werten“ um Regeln und Gesetze geht, dann muss es in einer demokratischen Gesellschaft natürlich Spielregeln für alle geben, an die sich auch alle halten müssen, damit nicht Chaos oder Gewalt ausbricht oder permanentes Unrecht herrscht. Und ich bin sehr froh, in einem Rechtsstaat mit Gewaltenteilung zu leben – das ist die Basis in unserer demokratischen Gesellschaft, die für mich nicht verhandelbar ist. Und die zentralen demokratischen Werte sind Freiheit, Gleichheit und Solidarität.

Um Regeln, die auf diesen Werten beruhen, zu lernen, braucht es politische Bildung für uns alle, in der Schule und auch in der Erwachsenenbildung. Ich bin gern bereit, eine gute Lehrerfortbildung in politischer Bildung zu machen. Und ich bin gern bereit, über zentrale demokratische Grundwerte mit den Teilnehmerinnen in meinen Kursen zu diskutieren. Ich finde es aber höchst problematisch, wenn es nicht um Diskussion und Austausch, sondern um Vermittlung der „richtigen“ Regeln geht, und das vor dem Hintergrund einer Prüfung, die über den Aufenthaltstitel in Österreich entscheidet. Denn ich bin eben nicht Beamte im Innenministerium geworden, sondern Deutschlehrerin.

Kathrin B.

Kommentar einer DaZ-Lehrenden: Willkommen in der Welt von Sebastian Kurz

Ohne jede wissenschaftliche Grundlage, dafür aber mit umso mehr multimedialer Verve hat der Österreichische Integrationsfonds als Basis für die vielzitierten Werteschulungen Interessantes über Österreich und die ÖsterreicherInnen zutage gebracht: Es wird Hände geschüttelt, was das Zeug hält und Schi gefahren.

Heinz Müller und Maria Bauer, die Protagonisten kurzer Videoklips mit Übersetzung ins Arabische und Persische, wohnen in einem etwas heruntergekommenen Gemeindebau in der Gartenstraße 1 in Meidling. Beide sind verheiratet und haben zwei bzw. drei Kinder. Heinz Müller kommt aus Deutschland, spricht ganz das österreichische Idiom („Kann mich der Arzt einmal anschauen?“) und besucht einen Deutschkurs. Er möchte Österreich kennenlernen. Maria Bauer erzählt ihm beim nachbarschaftlichen Kaffee – denn hier begrüßen wir uns immer mit Handschlag und laden jederzeit gerne unsere Nachbarn zum Kaffeetrinken zu uns nach Hause ein, was in einem anderen Kurzfilm noch näher ausgeführt wird:

„Österreich hat 9 Bundesländer. Alle Bundesländer sind sehr schön… Im Süden ist Kärnten mit der Hauptstadt Klagenfurt, daneben ist die Steiermark mit der Hauptstadt Graz… Wien ist die Hauptstadt von Österreich. Ganz im Osten ist noch das Burgenland mit der Hauptstadt Eisenstadt… In Vorarlberg, Tirol und Salzburg kann man gut wandern und Schi fahren, es gibt viele hohe Berge. Die Stadt Salzburg ist sehr schön. Hier hat Mozart gelebt. In Kärnten gibt es viele Seen und es scheint oft die Sonne… In Oberösterreich und Niederösterreich gibt es viele Bauernhöfe, hier kann man gut Urlaub machen und Fahrrad fahren…Und Österreich ist nicht groß.“ So plant Herr Müller nun den Traumurlaub.

Dann passiert etwas Sonderbares: Herr Müller ist offenbar eine Art hilfsbereiter Beamter auf der Meldestelle von Beruf, der nicht weiß, wie er seinen Müll trennen kann; er erklärt Frau Dr. Bauer, wie sie den Meldezettel ausfüllen soll. Dr. Maria Bauer: „Hier oben steht Familienname oder Nachname…was bedeutet das?“ Der Beamte hilft prompt und ganz unbürokratisch, so wie wir in unserem kleinen schönen Land eben sind: „ In diese Zeile schreiben Sie Ihren Nachnamen hinein!“ Herr Müller hält weitere Tipps parat, leider ist das nur in unserem kleinen schönen Land so simpel: „Bei Staatsangehörigkeit tragen Sie Ihr Herkunftsland ein.“

Frau Bauer und Herr Müller sind beide umgezogen, interessanterweise beide gleichzeitig, denn sie bleiben Nachbarn und tauschen Ostereier aus. Frau Bauer klingelt, schüttelt dann natürlich Herrn Müllers Hand und wünscht frohe Ostern, schließlich verkündet sie: „Ich möchte Ihnen gern ein paar Eier geben.“ Herr Müller nimmt eines, dann noch eines für seine Frau und bekommt 8 weitere für seine Familie. Zufälligerweise hält Herr Müller auch 10 Ostereier bereit und so zählt man munter weiter bis zwanzig.

Bevor Herr Müller aber umziehen konnte, sitzt er wieder im Wohnzimmer bei seiner Nachbarin Dr. Bauer, von Beruf offenbar mal Immobilienmaklerin, mal Ordinationsgehilfin, je nachdem: „Herr Müller, Sie suchen eine Wohnung für Ihre Familie?“ „Ja, ich suche eine Wohnung, für mich, für meine Frau, für meine drei Kinder.“ „Das ist gut, die Wohnung ist groß“ erklärt Frau Dr. Bauer kryptisch. Was ist denn nun gut, dass Herr Müller eine Wohnung sucht, dass er Frau und drei Kinder hat, dass die angebotene Wohnung groß ist; die aktuelle Wohnungsknappheit mal ganz außer Acht lassend? In unserem kleinen schönen Land ist alles gut. Und es gibt die kurzsche Hausordnung, ganz wie im Filmchen.

Zwischenbilanz: In der kurzschen Welt, unserem kleinen schönen Land, schüttelt man, egal was passiert, erst einmal die Hand. Wir fahren Schi. Wir trennen Müll. Grauenhafte Unfälle passieren, weil wir im Büro auf den Sessel steigen und nicht auf die Leiter. Wir merken uns die Notrufnummern, das ist nicht schwer. Wir laden unsere Nachbarn zum Kaffee ein. Wir bringen unseren Nachbarn Ostereier vorbei. Wir sind verheiratet und haben Kinder. Wir treiben Sport, idealerweise im Verein und ehrenamtlich. Unsere Beamten sind freundlich und hilfsbereit. Schlagersängerin Claudia ist ein Jungbubenschwarm und der Grund, warum Sascha beim Elternsprechtag plötzlich so gelobt wird von seiner Deutschlehrerin, erst konnte er gar nicht gut Deutsch, sein Vater war schon ganz verzweifelt, aber dann – Claudia!! Und die Eltern wollten auch noch verbieten, Briefe an Claudia vom Postamt aus abzuschicken, denn unsere Jugendlichen kennen weder App noch Facebook, um „Schlagersängerinnen“ zu huldigen.

Wem diese Dystopie überzogen scheint, dem genügt ein Blick auf die vom ÖIF publizierte „Lernunterlage“ zu den Wertekursen (Mein Leben in Österreich, S.22)

„Bildung ist für die Österreicherinnen und Österreicher sehr wichtig. Jede Frau und jeder Mann bekommt in Österreich eine gute Bildung. Es ist egal, wie alt man ist, woher man kommt oder wie viel Geld man hat. Alle haben hier die gleichen Chancen.“

Jeder einzelne Satz (und Halbsatz) an sich ist vermutlich unwahr, sofern die tatsächliche inhaltliche Relevanz überprüft werden wollte, der Zweck ist rein propagandistisch: Wem in Österreich ist denn „Bildung sehr wichtig“ und was versteht man hierzulande überhaupt unter „Bildung“? Und jede Frau und jeder Mann? Und alle gleichberechtigt? Zumindest das ist Gegenstand äußerst kontroversieller Debatten. Und plötzlich spielen entscheidende soziale Faktoren in der kurzschen Welt überhaupt keine Rolle mehr: fingierte Chancengleichheit, fingiertes Bildungsbürgertum, fingierte Fairness. Es könnte Satire sein, ist jedoch traurige Realität all derer, die auf sogenannte „Wertekurse“ verpflichtet wurden.