Jetzt soll ich also, vom Gesetzgeber angeordnet, „grundlegende Werte der Rechts- und Gesellschaftsordnung“ in Österreich in meinen Deutschkursen vermitteln, und diese Werte werden dann im Rahmen der „Integrationsprüfung“, einer kombinierten Sprach- und Werteprüfung abgeprüft. Die Integrationsprüfung entscheidet über etwas so Existentielles wie das Aufenthaltsrecht der PrüfungskandidatInnen in Österreich.
Ich bin es inzwischen seit 9 Jahren gewohnt, die Kursteilnehmerinnen in meinen Frauengruppen dabei zu unterstützen, Sprachprüfungen auf Niveau A2 bzw. B1 abzulegen, damit sie die Integrationsvereinbarung erfüllen können. Wie problematisch es ist, den rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich mit einem Deutschtest zu verknüpfen, erlebe ich jedes Semester wieder, wenn ich die Prüfungsvorbereitung mache, und die Frauen von Tag zu Tag nervöser werden, weil sie so unter Druck stehen. Ich kann ihnen den Druck nicht nehmen, aber ich kann sie sprachlich unterstützen und sie mit dem systematischen Aufbau der Prüfung vertraut machen.
Jetzt aber kommen in der Prüfung und in den Deutschkursen die Werte dazu, und das ist ein enormer Unterschied. Denn was bedeutet eigentlich der vielstrapazierte Begriff „Werte“? Bedeutet er im Kontext des Gesetzestexts „Regeln“, bedeutet er „Bräuche“, bedeutet er „Überzeugungen“ oder bedeutet er sogar so etwas wie ethisch-moralische Haltungen? Und je nachdem, wie das Gesetz ihn vorschreibt und wie der ÖIF ihn in seinen Wertematerialien abhandelt, wie gehe ich mit diesem Inhalt in meinem Deutschkurs um?
Die Frauen in meinen Deutschkursen kommen aus den unterschiedlichsten Ländern und haben sich aus vielfältigen Gründen für ein Leben in Österreich entschieden. Das heißt, einige von ihnen haben sich gar nicht bewusst für ein Leben in Österreich entschieden – es hat sie zufällig auf ihrer Flucht hierher verschlagen. Und nun – und das haben sie mit den anderen Frauen in meinen Kursen, die geplant hierhergekommen sind, gemeinsam – wollen sie das Beste aus ihrem neuen Leben hier machen. Und ich darf und soll und hoffentlich kann ihnen dabei helfen, indem ich sie beim Deutschlernen unterstütze.
Neben der Vermittlung von sprachlichen Strukturen, also dem hand- und mundfesten Werkzeug, das ich mitbringe und das auch über mehr oder weniger konkrete Ergebnisse überprüfbar ist, erlebe ich meine Arbeit vor allem als Austausch und Auseinandersetzung mit meinen Kursteilnehmerinnen. In dieser Auseinandersetzung treffen wir als Menschen aufeinander, die so unterschiedlich und sich doch auch so ähnlich sind, wie Menschen halt sind. Mit dem einen großen Unterschied allerdings, dass ich in Österreich geboren und aufgewachsen bin, und auch meine Eltern und meine Großeltern hier geboren und aufgewachsen sind. Und dieser Unterschied bedeutet, dass ich mich gesellschaftlich in einer einfacheren, und ja, privilegierten Position befinde. Der Unterschied bedeutet aber nicht, dass ich weiß, wie man hier richtig lebt, während die Kursteilnehmerinnen es nicht wissen.
Meine Position muss ich auch immer mitbedenken, wenn wir uns als Lerngruppe offen und vertrauensvoll untereinander austauschen. Denn meine privilegierte Position und einfach auch die Tatsache, dass ich die Lehrerin bin und die Frauen Lernende, bedeutet Macht. Und mit Macht soll man verantwortungsvoll umgehen. Wenn es um Grammatik und Wortschatz geht, dann bin ich aufgrund meiner langjährigen Ausbildung und Erfahrung die Expertin und kann und will das den Deutschlernenden vermitteln. Das steht (hoffentlich!) in meiner Macht.
Wenn es aber um etwas so Verschwommenes und schwer Definierbares wie „Werte“ geht, dann wird es problematisch. Denn natürlich geht es bei einem offenen Austausch auch immer um „Werte“, insbesondere, wenn man „Werte“ als Haltungen oder Überzeugungen versteht. Jede/r von uns denkt, sagt, zeigt, agiert, lebt seine/ihre Werte die ganze Zeit, bewusst oder meistens unbewusst. Und dann konfrontieren wir andere mit unseren Werten, und werden gleichzeitig mit ihren Werten konfrontiert. Das gilt natürlich nicht nur für den Kontext Deutschkurs, sondern für jede soziale Interaktion.
Das erlebe ich allein schon täglich vor der Schule meines Kindes, wenn ich mit anderen Eltern spreche, ganz egal, welchen „Hintergrund“ sie haben. Wir haben unterschiedliche Werte, sowohl Überzeugungen, als auch Regeln und Bräuche, als auch moralische Konzepte, was unsere Kinder angeht, was wir ihnen mitgeben wollen, was wir wichtig oder nicht so wichtig finden. Sollen die Kinder im Bett der Eltern schlafen oder nicht? Ist es gut, wenn Kinder schon mit einem Jahr außer Haus betreut werden? Etc. Und diese unterschiedlichen Wertvorstellungen tauschen wir miteinander aus, manchmal sind wir uns einig, manchmal überhaupt nicht. Schwierig wird es allerdings, wenn ich meine Werte, die ich zu diesem Zeitpunkt meines Lebens aufgrund meiner Lebenssituation und meiner Lebenserfahrungen habe, anderen als die richtigen vermitteln möchte. Denn Werte, wenn man sie als persönliche Überzeugungen und ethisch-moralische Konzepte versteht, sind individuell und wandelbar.
Ich kann sie nicht vermitteln, und ich kann sie schon gar nicht abprüfen; ich kann mich nur mit anderen über sie austauschen und sie auch verhandeln. Ich verstehe sie auch nicht als etwas Statisches, sie verändern sich ein Leben lang, durch die Veränderungen in meinem Leben und durch die Erfahrungen, die ich im sozialen Zusammenleben mit anderen Menschen mache. So habe ich jetzt definitiv andere Überzeugungen und auch teilweise andere ethische Vorstellungen als vor 20 Jahren, und ich würde sagen, das liegt zu einem großen Teil auch an meinem Beruf und den vielen unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Lebensgestaltungen, die ich durch meinen Beruf gehört, gesehen und erlebt habe.
Sollte es bei den Werten um Bräuche gehen, dann kann ich von österreichischen Bräuchen, sofern sie mir bekannt sind, erzählen (viele davon kenne ich nur vom Hörensagen oder Lesen, sie sind aber nicht Bräuche, die ich lebe); ich kann sie aber auch nicht vermitteln, denn dafür muss man entweder von klein auf damit aufgewachsen sein oder aber man entscheidet sich dafür, einen neuen Brauch ins jetzige Leben zu integrieren, und das ist immer eine sehr persönliche, individuelle Entscheidung, so etwas kann nicht politisch verordnet werden und auch nicht gelehrt werden.
Wenn es aber bei den „Werten“ um Regeln und Gesetze geht, dann muss es in einer demokratischen Gesellschaft natürlich Spielregeln für alle geben, an die sich auch alle halten müssen, damit nicht Chaos oder Gewalt ausbricht oder permanentes Unrecht herrscht. Und ich bin sehr froh, in einem Rechtsstaat mit Gewaltenteilung zu leben – das ist die Basis in unserer demokratischen Gesellschaft, die für mich nicht verhandelbar ist. Und die zentralen demokratischen Werte sind Freiheit, Gleichheit und Solidarität.
Um Regeln, die auf diesen Werten beruhen, zu lernen, braucht es politische Bildung für uns alle, in der Schule und auch in der Erwachsenenbildung. Ich bin gern bereit, eine gute Lehrerfortbildung in politischer Bildung zu machen. Und ich bin gern bereit, über zentrale demokratische Grundwerte mit den Teilnehmerinnen in meinen Kursen zu diskutieren. Ich finde es aber höchst problematisch, wenn es nicht um Diskussion und Austausch, sondern um Vermittlung der „richtigen“ Regeln geht, und das vor dem Hintergrund einer Prüfung, die über den Aufenthaltstitel in Österreich entscheidet. Denn ich bin eben nicht Beamte im Innenministerium geworden, sondern Deutschlehrerin.
Kathrin B.