Werteschulungen.
Gedanken einer Be_Werter_in.
Mein Magen krampft, ich schlucke schwer, atme flach. Lese erneut. Versuche mein Bauchgefühl zu deuten, die Abneigung, den körperlichen Widerstand zu verstehen, denke ihn lösen zu wollen. Warum reagiere ich bloß so? Was genau stellt meine Haare auf. Warum diese Abwehrhaltung? Mein erster klarer Gedanke. Ich will keine Mitläuferin sein. Nein. Da kann ich nicht mitmachen. Ich denke an die Kinder, imaginiere die Fragen, die, so unerbittlich und ernst, sie einst den Älteren stellen. “Warum habt ihr das zugelassen?” “Warum habt ihr nichts getan?” “Wie konntet ihr das nicht bemerken, nicht wissen?” “Wie konntet ihr nichts tun?”
Es ist 2017. Es ist Februar. Ich öffne eine Mail und folge einem Link zu einen Gesetzesentwurf, ich lese ihn und ich hoffe irgendwann aus diesem dystopischen Alptraum aufzuwachen. In dem ein Gesetz einem staatlichem System ermöglicht, den Bewohner_innen des Staatsgebiets bestimmte, von dazu angewiesenen staatlichen Institutionen und Funktionen, definierte aber nicht zur Disposition stehende Werte unter der Androhung von Sanktionen aufzuerlegen und dies zur demokratischen Normalität erklärt wird.
Wie konnte Antifaschist*in zu einer Schmähung werden?
Ich denke an Menschen im Mittelmeer und an den Grenzen. In Lagern, auf Straßen, in Containern, auf Inseln, auf gegenüberliegenden Kontinenten und hier. In Erziehungsanstalten und Camps. In Kontrollsystemen versorgt. Ich denke an Migrant_innen und Refugees an Bewegungsfreiheiten und an Pässe, an Menschen, wie Unartige behandelt. Ich lese von Werten und falle ins bodenlose Vertigo. Im Schwindel reihen sich Worte und Fragezeichen aneinander: Mitläufer_in? Mittäter_in? Unterstützer_in? Sabotierer_in? Befehlsausführer_in? Vorauseilendes Gehorsam? Verweigertes Gehorsam? Widerstand? Aufgabe? Ohnmacht?
Ich lese von grundlegenden Werten der Rechts- und Gesellschaftsordnung. Ich lese, dass ein einziges Organ herausgebend, ausführend und kontrollierend ist, dass eine einzige Funktion per Verordnung Inhalte bestimmt.
Ich wurde nie gefragt. Genauso wenig wie alle anderen, die es betrifft und es betrifft uns alle, die hier auf diesem Stückchen Erde wohnen. Und was, wenn mir das nicht passt? Was dann? Sollt ich dann gehen?
Stimmen, die sich seit dem ersten Aufkommen solcher Ideen (2015) kritisch äußerten, werden ignoriert und diskreditiert als verblendete Humanist_innen, Weltverbesserer_innen, Antifaschist_innen, Antinationalist_innen, Akademiker_innen, Träumer_innen.
Alles dreht sich.
Ich mag da nicht mitmachen. Stop. Es geht nicht um einzelne Inhalte. Es geht um die Verordnung, die Pflicht, die Sanktion, die Kontrolle, das Monopol.
Plötzlich über Nacht und ohne breite Diskussion stehen sie da. Von Expert_innen erstellte Werte. Sie werden einer Gesellschaft vorgestellt. Ihr auferlegt und plötzlich verstummt der polyphone Dialog. Es ist still. Keine Diskussion mehr. Die Antwort zu der Frage was Integration ist, wird in ein Gesetz gegossen mit Sanktionen versehen und beschlossen, dass es darum jetzt keine weiteren Debatten mehr gibt. Punkt. Ähm, Entschuldigung aber was ist mit dem Recht darauf, so sein zu dürfen, das Recht auf Vielfalt und Veränderung?
Die Debatte ist geschlossen. Punkt.
So einfach war Freiheit, das Recht auf Selbstbestimmung mit Sicherheit (verstanden als Erhaltung eines Momentzustands betrachtet aus exklusiver Perspektive) und Kontrolle vertauscht worden, dass in der Banalität der Faktenlage das Grausame liegt.
Zynisch das “Die Würde des Menschen, die Gleichberechtigung aller Menschen und das Recht jedes Einzelnen auf ein selbstbestimmtes und selbstverantwortliches Leben” unbedingt als grundlegende Werte verordnet werden.
Wann gilt eine_r als Mensch?
Der Inhalt ist für mein formuliertes Befinden, für mein Unbehagen irrelevant. Es geht um die Form. Selbst wenn es meine persönliche Utopie wäre, welche per Verordnung nun als die grundlegenden Werte der Bewohner_innen eines abgegrenzten Stückchens Welt gelten mögen. Selbst wenn diese bloß die Verfassung widerspiegeln würden. Es ist die politische Form die entsetzt, die empört und die mir immer wieder in ihrer arroganten Selbstverständlichkeit den Atem verschlägt.
Verpflichtende Werteschulungen und Werteprüfungen? Bei Verweigerung Bestrafung, Ausschluss aus der Solidaritätsgemeinschaft, Verweis aus dem Staatsgebiet?
Für alle? Nein, für bestimmte juristisch definierte Personengruppen (jene, welche als juristische Personen dem Staate Österreich anhängig sind) gelten diese Regeln nicht. Bedeutet dies, dass Personen, welche die österreichische Staatsangehörigkeit tragen, die per Weisung eines staatlichen Organs definierten Werte und Regeln inkorporiert haben? Wird hier von einer quasi Natürlichkeit des Kennens und Befürwortens dieser, eben erst bekanntgewordenen Werte ausgegangen, oder stattet eine solche Staatsangehörigkeit mit dem Privileg aus, diese eben nicht zu befolgen? Oder aber, werden in Zukunft ebenso mit Hilfe des staatlich organisierten Bildungssystems, Sozialsystems, Medienkampagnen etc. diese Werte sanktionierend verbreitet und haben auch als österreichische Staatsangehörige definierte, diesen (ihnen scheinbar natürlichen, nicht zur Disposition stehenden) Regeln unhinterfragt zu folgen?
Es ist 2017. Es ist Winter. Mitteleuropa. Wien. Eines der selbsternannten globalen Zentren der Demokratie und Meinungsfreiheit. Die Stimme des Souverän hallt durch meine Gedankengänge: “So lange du unter diesem Dach lebst, tust du was dir befohlen wird, denkst du was dir gelehrt wird zu denken, führst du aus was dir aufgetragen wird.”
Ich unter_werf mich in Ehr_furcht. Den Herr_schaften zu Füßen liegt Selbstbestimmung im Staub. Ich über_gebe mich. Schalte das Denken auf Gleich. Löse den Widerstand auf. Zum Erhalt der Körperlichkeit leg ich das Selbst ab. Wie eine schlechte Gewohnheit wird es verpönt, ausgeschlossen, zur Uneigentlichkeit erklärt. Ich bin Be_Werter_in von Beruf.
J.S.